Donnerstag, 17. November 2011

III. Briefe zur Vorlesung von Jürgen Wertheimer


Was unsere Planung betrifft, auch am 21. November die Vorlesung abzuhalten, so möchte ich doch noch zwei Punkte erwähnen:
  •  Die Poetik-Dozentur-Vorlesungen liegen mir mehr als nur am Herzen; schließlich habe ich sie zehn Jahre lang selbst betrieben. Andererseits kam der Termin der Eröffnungsveranstaltung erst lange nachdem die Planungen für diese Vorlesung zustande und ist von mir nicht zu verantworten. Freilich sind Überschneidungen bei der Dichte von Veranstaltungen in Tübingen im November kaum zu vermeiden. Andererseits haben Vorlesungen schon ihre eigene Geometrie und ich kann ein mir wichtiges Element nicht einfach ausfallen lassen ohne das Ganze zu beeinträchtigen. Der satirisch-polemische Aspekt der Aufklärung nimmt eine wichtige Stellung ein und muss auch zu diesem Zeitpunkt thematisiert werden.
  • Nun noch einmal rückblickend zur vergangenen Stunde: Der wohl wichtigste Punkt der Nathan-Vorlesung lässt sich dahingehend fokussieren, dass man durch jede halbherzige Verwendung des relativierenden Systems noch immer im Argumentationsduktus des monotheistischen, also auf einen Wahrheit abzielendes Denkmodell verbleibt. Solange die Option des einen, etwas echteren Rings noch aufrecht erhalten bleibt, so lange ist die Wirkungskraft dieses Denkens nahezu ungebrochen. Lessings Modell zielt aber genau darauf ab, den Zwang dieses Denksystems zu unterlaufen und seine Begrenztheit sowohl intellektuell wie emotional aufzuzeigen. Dazu gehört die Austauschbarkeit der Identitätsentwürfe, die bis zur Verwechselbarkeit der ineinander verwobener Gesamtstruktur der überlieferten Schriften und der strukturellen Mehrdeutigkeit des Ganzen im Stück reicht.
  • Im Anschluss an die Vorlesung wurde die Frage gestellt, ob nicht ein Restbestand an größerer Eindeutigkeit zugunsten der christlichen Religion offen im Stück angelegt sei. Ich möchte dem nicht nur widersprechen, um klarzustellen, dass meiner Ansicht nach die verbliebene Denkmöglichkeit um den einen, echten Ring durch das Verwirrspiel der richterlichen Argumentation unterlaufen wird, sondern noch hinzufügen, dass damit das Ganze des Bauplans dieses Stückes gefährdet würde. Es geht vielmehr darum, unseren Reflex, restbestandsartig immer noch eine Option etwas mehr zu privilegieren, freizulegen, bloßzustellen, um sie möglicherweise einer Korrektur zu unterziehen.

Soweit für heute, nächstens mehr

Jürgen Wertheimer

5 Kommentare:

  1. So überzeugend Wertheimers Darstellung zum "Nathan" war, so wenig nachvollziehbar seine anschließenden Überlegungen zur Rezeption des Werkes durch seine muslimischen Freunde in Palästina.
    Deren Einwand, dass Saladins Verhalten im Stück in keiner Weise dem des historischen Saladin entsprochen habe, trifft deshalb ins Leere, weil es nicht Lessings Absicht war einen historischen Saladin darzustellen.
    Absicht Lessings war, wie Wertheimer in der Vorlesung deutlich herausgearbeitet hat: Provokation. - In den Augen eines Goeze und dessen Anhänger musste die Infragestellung des Absolutheitsanspruchs einer Offenbarungsreligion provozierend wirken - und genau das hat Lessing offensichtlich mit Lust - so was macht je auch Spaß! - im Auge gehabt. Ich wüßte nicht, warum man diese Lust angesichts gewisser muslimischer Befindlichkeiten unterdrücken sollte.
    Es ist nicht Ausdruck westlicher Borniertheit, wenn man auf den im "Nathan" formulierten Prinzipien beharrt, sondern es hat wohl eher damit zu tun, dass sich bestimmte Kreise - und das würde ich nicht nur auf muslimische Glaubensgemeinschaften begrenzen - vehement und mehr oder weniger erfolgreich jeglichen Gedanken an Aufklärung verweigern. Und genau dagegen hat sich Lessing gerichtet. Mit Recht!
    Man kann sich eben nicht - es sei denn, man riskiert einen nicht aufrecht zu erhaltenden Selbstwiderspruch - auf Lessings Ansatz im "Nathan" berufen und gleichzeitig zu bedenken geben, dass diese Position möglicherweise auch Ausdruck einer westlichen Überheblichkeit sein könnte.

    AntwortenLöschen
  2. Nun greife ich denn doch zur Feder bzw. bemühe die Tastatur - selbst das nur wenig gekonnt, nie gelernt, mühsam und immer wieder mit Fehlern.
    Und genau dies ist es, was mich (und wahrscheinlich viele andere auch) immer wieder zurückschrecken läßt das Wort zu ergreifen: mein so ungebildet sein angesichts vieler so Gebildeter!
    Dennoch konnte einen die letzte Vorlesung nicht kalt lassen angesichts der Schrecken der Geschichte, die nicht aufhören will ....
    Man könnte weinen, und ich frage mich warum ich es nicht tue!
    Doch wenn diese Welt nicht die beste aller Welten ist, heißt das, dass der Mensch eben nicht die Krone der Schöpfung ist, sondern einfach nur Teil einer Natur, die wir nur zu verstehen ahnen?
    Oder wie Albert Schweitzer es ausdrückt:"ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das Leben will."
    Doch wie leben ohne verrückt zu werden ???
    (60.000 US Soldaten sind im Vietnam Krieg ums Leben gekommen - ebensoviele haben sich nach dem Krieg selbst das Leben genommen, 300.000 wurden Heroin abhängig, und noch viel mehr konnten sich nicht mehr in die Gesellschaft integrieren und wurden straffällig ....)
    Wie also leben ohne verrückt zu werden - wie Realität aushalten?
    So stellt sich also die Frage nach dem Sinn.
    Aufklärung als Sinnsuche?
    Und treibt diese Suche nach Sinn nicht wieder demütig zurück zum Glauben an das Gute?
    Wie schön ist doch ein Film mit Happy End, Samstag abends im warmen Wohnzimmer mit einem guten Glas Rotwein ....

    AntwortenLöschen
  3. Recht haste, Bernd Henri!

    AntwortenLöschen
  4. @ Bernd Henri:
    ich finde es zynisch, im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg auf 60.000 getötete US-Soldaten hinzuweisen ohne die mind. 3 Millionen ermordeten Vietnamesen zu erwähnen!

    AntwortenLöschen
  5. @Geschichtsstudent:
    Das finde ich auch! Mein "Recht haste..." bezog sich auf den letzten Satz.
    @Bernd Henri:
    Und es bezog sich auf die Relation Weltgeschehen - regionales Geschehen - eigenes Leben. Ab einem gewissen Alter ist das Auftischen von vergangenen, fremden Problemen nicht mehr glaubwürdig, wirkt wie eine rhetorisch aufgepeppte Problemblase mit Leim auf der Suche nach Leuten, die da reinfallen mögen. Die Menschheit hat seit Jahrtausenden Gebote (religiöse, moralische, ethische, rechtliche) und literarisch gut formulierte... !

    AntwortenLöschen