Mittwoch, 9. November 2011

II. Briefe zur Vorlesung von Jürgen Wertheimer

Dem Wunsch nach griffigen Thesen vermag ich nur  bedingt nachzukommen, dies auch aus prinzipiellen Gründen: Komplexe Systeme darstellen zu wollen, beinhaltet meines Erachtens eben gerade nicht, sie durch gewohnte Kurzthesen entsprechend zu verkürzen, sondern sie vielmehr in ihrer Länge, Diskontinuierlichkeit und inneren Widersprüchlichkeit wahrzunehmen. Dies gilt im Fall der Aufklärung sogar in besonderem Maße.
Dennoch: Hier  noch einmal die Zusammenfassung einiger Punkte, die ich allerdings schon des Öfteren genannt habe, dass sie allein durch Redundanz schon eingängig geworden sein sollten:

  1. Aufklärung ist ein Phänomen, welches aus Widersprüchen lebt. Einer davon ist der zwischen historischem Erbe und dem bis in die Gegenwart reichenden sachlichen Auftrag. Ein anderer ist der zwischen dem Kampf gegen Ideologien und der Notwendigkeit, Teil einer kommunikativen Kampagne ideologischer Wucht und Dimension zu sein. 
  2.  Eine andere These hat damit zu tun, dass Redundanz und Progress ganz offenbar Teil einer diskursiven Maschinerie zu sein scheinen. Ab einem gewissen Punkt beginnen europaweit Reflexionen um im Wesentlichen ein und dieselbe Frage, nämlich mit welchen Erkenntnismöglichkeiten sind wir ausgestattet, um Wahrheit über Gott und die Welt selbsttätig herstellen zu können. Einmal in Gang gesetzt, diversifiziert sich die Methode in unendliche viele Einzelansichten, die sich dennoch insgesamt zu einem Puzzle verdichten. Die Positionen von Locke, Hobbes, Spinoza , Descartes u. a. haben allesamt einen gemeinsamen Nenner und innerhalb dessen eine gewisse Streubreite.
  3. Eine weitere These würde sich auf das konzentrieren, was mit dem Entstehen einer kritischen Masse beschreibbar ist: 1800 erreicht die Zahl der Publikationen ein solches Volumen, eine solche diversifizierende Kompetenz, dass aus dem Geflecht von Spruch und Widerspruch, These und Gegenthese ein kommunikatives Gesamtdenksystem entsteht, was die Diskurse zu Beginn um eine Vielzahl übertrifft. 
  4. Im Gefolge dessen  entsteht ein auf sich und die individuelle Wahrnehmungsschulung bezogenes Gesamtszenarium, das dazu führt, von nun an in fast alle literarischen, artistischen und wissenschaftlichen Teilsysteme einzudringen. Hier folgt es einer neuen, paradoxalen Wendung: Zum einen materialisiert sich ein Lenksystem als das dominante, zum anderen führt dies dazu, dass natürlich immer neue Abgrenzungen und Differenzierungen notwendig werden, eben weil diese Verkettung entsteht.  
  5. Diese Verkettung führt zu einem letzten Aspekt, den ich hier thematisieren möchte: Das Denken in Vernetzungen unterschiedlicher Szenarien auch wissenschaftlicher Art führt zur Notwendigkeit einer immer stärkeren definitorischen Abgrenzung. Eine große Systemleistung des aufklärerischen Diskurses besteht darin, den Agierenden dazu zu bringen bzw. anzuleiten, begrifflich schärfer und klarer zu werden. Die Erschaffung des begrifflichen Instrumentariums hat zur Folge, dass die Aufklärung an rhetorischer und performativer Wucht gewinnt und schließlich das Denken eines Zeitalters normativ bestimmt. Der Schritt von der Norm zur Ideologie ist gering und über eben diesen Prozess müssen wir uns in der Folge der Vorlesung verständigen.

4 Kommentare:

  1. Es ist fraglos richtig, dass große Geistesbewegungen natürlich eine Dominanz gewinnen, die auch zu ideologischen Festschreibungen führt. Schwierigkeiten habe ich dagegen mit der am Ende der Vorlesung von Herrn Prof. Wertheimer geäußerten Einschätzung, wenn Diderot von den "faulen nichtdenkenden Menschen" als entarteten Menschen spreche, dann sei hier der Anfang einer problematischen Entwicklung zu sehen, der - so ist wohl zu ergänzen - am Ende zu dem Begriff der Entartung in der NS-Ideologie führe. Ich denke, man darf Diderot nicht mit zukünftigen Entwicklungen beschweren. Er und (wie auch in der Vorlesung dargestellt) seine Vorgänger haben gezeigt, dass das Menschsein zusammengehört mit dem Denken, dass der Mensch also die Bedingtheit seiner Art verfehlt, wenn er dieses Denken nicht nutzt. Das ist nicht zwingend eine Wertung, sondern zunächst eine Feststellung und als solche nicht von der Hand zu weisen.

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  2. Jene dominierende, herrschende, gar diktatorische Tendenz, die der Aufklärungsbewegung am Ende der Vorlesung anmerkend zugesprochen worden ist, wurde immer wieder erkannt und konkret diagnostiziert. Weithin bekannt dürften wohl die Gedanken von Horkheimer & Adorno in diesem Zusammenhang sein:

    "Der Mythos geht in die Aufklärung über und die Natur in bloße Objektivität. Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie die Macht ausüben. Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann. Der Mann der Wissenschaft kennt die Dinge, insofern er sie machen kann. Dadurch wird ihr An sich Für ihn. In der Verwandlung enthüllt sich das Wesen der Dinge immer als je dasselbe, als Substrat von Herrschaft. Diese Identität konstituiert die Einheit der Natur." (Begriff der Aufklärung, in: Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung.)

    Auf einen ersten Blick mag es vielleicht als zu radikal erscheinen, zwei zeitlich so entfernte Realitäten, wie die des wissenschafts-optimistischen 18. Jahrhunderts (zumindest in Person der in der Vorlesung erwähnten Hauptfiguren) und jene barbarische Wirklichkeit des Nationalsozialismus zusammenzudenken. Soziale und politische Szenarien des jeweiligen Zeitraums dürfen nicht beliebig miteinander gleich gesetzt werden, auch die Frage nach der „Schuld“ des 18. Jahrhunderts hinsichtlich späterer Entwicklungen scheint mir grundsätzlich die falsche Fragestellung zu sein. Und dennoch: die diktatorische Grundtendenz, der alle Bereiche des Lebens systematisch durch-rationalisierenden Ordnungswut der Aufklärung, kann und darf in ihrer Rolle als Wegbereiter für die technokratisch bis ins Detail perfide perfektionierten Nützlichkeits-Totalitarismen nicht außer Acht gelassen werden. Die Aufklärung der Aufklärung muss sich dieser durch sie selbst geförderten Tendenz bedingungslos stellen, sonst wird es wieder ganz schnell finster in der ach so aufgeklärten Welt. Die elaborierten, durch Fortschritt selbst erreichten Verdunklungsmechanismen (z.B. Massenkultur & deren Technologien) haben spätesten im 20 Jahrhundert einen Grad der Bedrohung erreicht, den es zu jedem Zeitpunkt mit vollster Aufmerksamkeit kritisch zu beobachten gilt!
    „[D]ie vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ (Begriff der Aufklärung, in: Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung.)

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  3. Zusatz: daraus folgere ich:

    Wenn Wissenschaft Aufklärung ist, und Wissenschaftler "machen", ist eine gewisse Gefahr der wissenschaftlichen Diktatur gegeben, welcher angemessen entgegengewirkt werden muss.
    Hier kommt der Begriff der "Ausgewogenheit" und des "Schutzraumes" eine wichtige Bedeutung zu.

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  4. Die "Daten deutscher Dichtung" stehen bei mir ach im Bücherregal. Sie decken sehr umfangreich die Werke ab 1800 ab.

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