Mittwoch, 7. Dezember 2011

"Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils."

Liebe Leserinnen & Leser,

heute möchte ich Sie gerne auf einige im Internet verfügbare Vorträge von DenkerInnen im Umfeld der Kritischen Theorie und mit Bezug auf die Frage nach der Aufklärung aufmerksam machen, um Sie somit schon mal auf die kommende Vorlesung einzustimmen.

viele Grüße
Philipp Marquardt

 Adorno & Bloch: Möglichkeiten der Utopie heute


Bloch: Karl Marx heute

Adorno-Marcuse: Transformation des Kapitalismus


Hans Mayer im Interview:

 Hannah Arendt: Freiheit und Politik

17 Kommentare:

  1. Zur Frage, inwieweit sich in der Französischen Revolution – bzw. den großen bürgerlichen Revolutionen i.A. – die Vorstellungen der Aufklärung manifestierten, möchte ich Folgendes anmerken. Ich sehe den hauptsächlichen Motor der revolutionären Ereignisse ab 1789 in den ökonomischen Interessen und Bedürfnissen der aufstrebenden Bourgeoisie – die ja zum damaligen Zeitpunkt in Frankreich bereits eine relevante gesellschaftliche Kraft darstellte. Das Bürgertum braucht, um seine wirtschaftlichen Geschäfte ausüben zu können, Vertragssicherheit zwischen „gleichen“ Warenbesitzern, Aufhebung feudal-ständischer und zünftlerischer Privilegien, ein mobiles Arbeitskräftereservoir, Pressefreiheit (um zuverlässige Informationen z.B. über profitable Kapitalanlagemöglichkeiten zu erhalten) usw. usf., wofür eben die bürgerlichen Rechte von Nöten sind. Untersucht man die Genese der Ideen der Menschenrechte und der Vertragstheorien, so fällt auf, wie sehr jene Denker – wobei Locke als ein Prototyp gelten kann – den Citoyen faktisch mit dem Bourgeois identifizierten. So galt jenen Philosophen letztlich der Besitzbürger als der „wahre“ Mensch, der allein überhaupt zu politischer Meinungsbildung fähig sei. So durften bekanntlich selbst in den USA in den ersten Jahrzehnten nach der Unabhängigkeitserklärung bzw. der Verabschiedung der Verfassung nicht einmal alle weißen Männer wählen, sondern nur die besitzenden. Jedenfalls scheinen mir nicht theoretische Ideale, sondern ökonomische Interessen das wichtigste Motiv für die Durchsetzung der Menschenrechte gewesen zu sein und auch heute noch zu sein.

    Während Gleichheit und Freiheit in der Zirkulationssphäre für alle Menschen gelten, herrscht in der Sphäre der Produktion nicht nur massive Ungleichheit, sondern auch keine eigentliche „Freiheit“ der Lohnabhängigen, die faktisch dem Diktat der Kapitaleigentümer und -verwalter unterworfen sind. Auch über Eigentum verfügen die Lohnabhängigen nicht, mit Ausnahme des Eigentums an ihrer eigenen Arbeitskraft. Marx spricht daher ja von der „doppelten Freiheit“ des Lohnarbeiters, der einerseits „freier“ Vertragspartner ist, andererseits „frei“ ist von Produktionsmitteln und Grundeigentum. Daraus ergibt sich der für die große Mehrzahl der Erwerbsfähigen bestehende Zwang, die eigene Arbeitskraft auf dem Arbeits-Markt gegen einen Lohn zu verkaufen, um überhaupt überleben zu können, da die Möglichkeiten der Selbstversorgung im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten nicht gegeben sind. Das Recht auf Eigentum – das de facto wichtigste Recht in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft – impliziert also stets den Ausschluss der großen Mehrheit der Gesellschaft vom Eigentum an den Produktionsmitteln sowie die ständige Aneignung des von den Lohnabhängigen erarbeiteten Mehrwerts durch die Unternehmer bzw. Anteilseigner; der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ist also immer schon vorausgesetzt. Während jedoch die sog. Totalitarismustheorien nur die politische Sphäre in den Blick nehmen, wird die ökonomische Sphäre (die Produktionssphäre) vollkommen ausgespart – nach diesen Theorien kann es also keinen totalitären Markt, keine totalitäre Ökonomie, keinen Totalitarismus der (globalen) Verwertungslogik des Kapitals geben, was meiner Ansicht nach der Lebenswirklichkeit im real existierenden Kapitalismus nicht gerecht wird. Und all dies ist eben schon in der Aufklärungs-Ideologie angelegt, sofern die Aufklärer – vielleicht mit Ausnahme Rousseaus – den Bourgeois, d.h. den Besitzbürger als „homme“ und die Bedürfnisse dieses bürgerlichen Warensubjekts als überhistorische, allgemein-menschliche „Rechte“ konzipierten.

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  2. Zusatz - Teil 1:
    In seiner Schrift „Zur Judenfrage“ analysiert Marx auf, wie ich finde, grandiose Weise die bürgerliche Menschenrechts-Ideologie. Er schreibt:

    „Wo der politische Staat seine wahre Ausbildung erreicht hat, führt der Mensch nicht nur im Gedanken, im Bewusstsein, sondern in der Wirklichkeit, im Leben ein doppeltes, ein himmlisches und ein irdisches Leben, das Leben im politischen Gemeinwesen, worin er sich als Gemeinwesen gilt, und das Leben in der bürgerlichen Gesellschaft, worin er als Privatmensch tätig ist, die andern Menschen als Mittel betrachtet, sich selbst zum Mittel herabwürdigt und zum Spielball fremder Mächte wird.“

    „Der Mensch in seiner nächsten Wirklichkeit, in der bürgerlichen Gesellschaft, ist ein profanes Wesen. Hier, wo er als wirkliches Individuum sich selbst und andern gilt, ist er eine unwahre Erscheinung. In dem Staat dagegen, wo der Mensch als Gattungswesen gilt, ist er das imaginäre Glied einer eingebildeten Souveränität, ist er seines wirklichen individuellen Lebens beraubt und mit einer unwirklichen Allgemeinheit erfüllt.“

    „Die Differenz zwischen dem religiösen Menschen und dem Staatsbürger ist die Differenz zwischen dem Kaufmann und dem Staatsbürger, zwischen dem Taglöhner und dem Staatsbürger, zwischen dem Grundbesitzer und dem Staatsbürger, zwischen dem lebendigen Individuum und dem Staatsbürger.“

    „Die Spaltung des Menschen in den öffentlichen und in den Privatmenschen […] ist nicht eine Stufe, sie ist die Vollendung der politischen Emanzipation […].“

    Die Menschenrechte sind, so Marx, „die Rechte des Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. des egoistischen Menschen, des vom Menschen und vom Gemeinwesen getrennten Menschen.“

    Zur „Freiheit“ im bürgerlichen Sinne schreibt Marx: „Die Freiheit ist also das Recht, alles zu tun und zu treiben, was keinem andern schadet. […] Aber das Menschenrecht der Freiheit basiert nicht auf der Verbindung des Menschen mit dem Menschen, sondern vielmehr auf der Absonderung des Menschen von dem Menschen. Es ist das Recht dieser Absonderung, das Recht des beschränkten, auf sich beschränkten Individuums.“ Und: „Es handelt sich um die Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückgezogener Monade.“
    Zum „Recht auf Eigentum“ schreibt Marx, dies sei „das Recht, willkürlich […], ohne Beziehung auf andre Menschen, unabhängig von der Gesellschaft, sein Vermögen zu genießen und über dasselbe zu disponieren, das Recht des Eigennutzes. Jene individuelle Freiheit, wie diese Nutzanwendung derselben, bilden die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft. Sie lässt jeden Menschen im andern Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr die Schranke seiner Freiheit finden.“
    Und weiter: „Keines der sogenannten Menschenrechte geht also über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sich, auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist. Weit entfernt, dass der Mensch in ihnen als Gattungswesen aufgefasst wurde, erscheint vielmehr das Gattungsleben selbst, die Gesellschaft, als ein den Individuen äußerlicher Rahmen, als Beschränkung ihrer ursprünglichen Selbstständigkeit. Das einzige Band, das sie zusammenhält, ist die Naturnotwendigkeit, das Bedürfnis und das Privatinteresse, die Konservation ihres Eigentums und ihrer egoistischen Person.“

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  3. Zusatz - Teil 2:
    „Dieser Mensch, das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, ist nun die Basis, die Voraussetzung des politischen Staats. Er ist von ihm als solche anerkannt in den Menschenrechten. Die Freiheit des egoistischen Menschen und die Anerkennung dieser Freiheit ist aber vielmehr die Anerkennung der zügellosen Bewegung der geistigen und materiellen Elemente, welche seinen Lebensinhalt bilden. Der Mensch wurde daher nicht von der Religion befreit, er erhielt die Religionsfreiheit. Er wurde nicht vom Eigentum befreit. Er erhielt die Freiheit des Eigentums. Er wurde nicht von dem Egoismus des Gewerbes befreit, er erhielt die Gewerbefreiheit.“

    Bezug nehmend auf die französischen Revolutionäre schreibt Marx, dass „das Staatsbürgertum, das politische Gemeinwesen von den politischen Emanzipatoren sogar zum bloßen Mittel für die Erhaltung dieser sogenannten Menschenrechte herabgesetzt, dass also der citoyen zum Diener des egoistischen homme erklärt, die Sphäre, in welcher der Mensch sich als Gemeinwesen verhält, unter die Sphäre, in welcher er sich als Teilwesen verhält, degradiert, endlich nicht der Mensch als citoyen, sondern der Mensch als bourgeois für den eigentlichen und wahren Menschen genommen wird.“


    An anderer Stelle schreibt Marx: „Es ist unserm Schulmeister [Max Stirner – P.K.] nicht entgangen, dass in neuester Zeit die Liberalen mit den Bourgeois identifiziert wurden. Weil Sankt Max die Bourgeois mit den guten Bürgern, den kleinen Deutschbürgern identifiziert, fasst er das ihm Tradierte nicht, wie es wirklich ist und von allen kompetenten Schriftstellern ausgesprochen wurde – nämlich so, dass die liberalen Redensarten der idealistische Ausdruck der realen Interessen der Bourgeoisie seien, sondern umgekehrt, dass der letzte Zweck des Bourgeois der sei, ein vollendeter Liberaler, ein Staatsbürger zu werden. Ihm ist nicht der bourgeois die Wahrheit des citoyen, ihm ist der citoyen die Wahrheit des bourgeois.“

    Und: „Man zeigte nach, wie die Anerkennung der Menschenrechte durch den modernen Staat keinen andern Sinn hat als die Anerkennung der Sklaverei durch den antiken Staat. Wie nämlich der antike Staat das Sklaventum, so hat der moderne Staat die bürgerliche Gesellschaft zur Naturbasis, sowie den Menschen der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. den unabhängigen, nur durch das Band des Privatinteresses und der bewusstlosen Naturnotwendigkeit mit dem Menschen zusammenhängenden Menschen, den Sklaven der Erwerbsarbeit und seines eignen wie des fremden eigennützigen Bedürfnisses. Der moderne Staat hat diese seine Naturbasis als solche anerkannt in den allgemeinen Menschenrechten.“

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  4. Zusatz - Teil 3:
    Im ersten Band des „Kapital“ schreibt Marx: „Die Sphäre der Zirkulation oder des Warenaustausches, innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, war in der Tat ein wahres Eden der angebornen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham. Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer einer Ware, z.B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine. Bentham! Denn jedem von den beiden ist es nur um sich zu tun. Die einzige Macht, die sie zusammen und in ein Verhältnis bringt, ist die ihres Eigennutzes, ihres Sondervorteils, ihrer Privatinteressen. Und eben weil so jeder nur für sich und keiner für den andren kehrt, vollbringen alle, infolge einer prästabilierten Harmonie der Dinge oder unter den Auspizien einer allpfiffigen Vorsehung, nur das Werk ihres wechselseitigen Vorteils, des Gemeinnutzens, des Gesamtinteresses.“


    Und wiederum in „Zur Judenfrage“ schreibt er: „Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst. […] Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ‚forces propres‘ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.“

    Gleichwohl anerkennt Marx den – allerdings notwendig beschränkten – progressiven Gehalt der Menschenrechte: „Die politische Emanzipation ist allerdings ein großer Fortschritt, sie ist zwar nicht die letzte Form der menschlichen Emanzipation überhaupt, aber sie ist die letzte Form der menschlichen Emanzipation innerhalb der bisherigen Weltordnung.“ Es bleibt dies jedoch die politische Emanzipation, die die Spaltung der Menschen in abstrakte („gleiche“) Staatbürger und reale (im höchsten Maße sozial ungleiche) Privatpersonen bedeutet, weshalb das Ziel die allgemein-menschliche Emanzipation (s.o.) bleiben müsse.

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  5. Es gibt so umwerfend "tolle" Erkenntnisse unserer Altvorderen und Altvorderinnen, siehe auch Video Hannah Ahrendt, dass man vor lauter Freude jeden um den Hals fallen möchte. Aber nur, während des Leseprozesses. Ernüchterung: Wo bleibt die Umsetzung in der Praxis? Ist sie verborgen? In den Clusters?

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  6. @ anonym:

    du schreibst: "Es gibt so umwerfend "tolle" Erkenntnisse [...]. Ernüchterung: Wo bleibt die Umsetzung in der Praxis? Ist sie verborgen?"
    Ob die allgemein-menschliche Emanzipation künftig einmal verwirklicht werden kann, liegt an uns allen, zumindest an all jenen, die von dem heute herrschenden System nicht unmittelbar profitieren! Das kommt natürlich nicht von alleine, es ist auch nicht "verborgen", sondern das mögliche Ergebnis eines längeren Kampfes, der von der Mehrheit der Gesellschaft geführt werden muss. Und nur, weil etwas heute nicht Realität ist (ich verweise auf Ernst Blochs Kategorie des "Noch-Nicht-Seienden"!), bedeutet dies nicht, dass es niemals Realität werden könnte. Vor 100 Jahren wäre es den Menschen auch als absurde, utopische Vorstellung erschienen, wenn man ihnen erzählt hätte, dass die Menschen künftig Atomkerne spalten, auf den Mond fliegen und Gene manipulieren werden können. (Unabhängig davon, wie diese Fähigkeiten zu bewerten sind). Vieles ist möglich, wenn die Masse der Menschen dies will und bewusst dafür kämpft. Daher ist auch eine nach-kapitalistische, solidarische (sozialistische/kommunistische) Gesellschaft prinzipiell möglich. Das lässt sich nicht leichtfertig mit der rhetorischen Frage "Wo bleibt die Umsetzung in der Praxis?" abtun.

    PS: Hannah Ahrendts Analyse des "Totalitarismus" propagiert gerade jene einseitige Vorstellung, die ich oben kritisiert habe, indem sie nur politische / staatliche Regime als "totalitär" qualifiziert, während sie nicht sieht, wie sehr die von ihr aufgestellten Kriterien einer totalitären Gesellschaft gerade auf die kapitalistische Gesellschaft - man könnte auch sagen: auf die globale Diktatur des Kapitals - zutrifft. Vgl. die Analyse von Robert Kurz:

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  7. Robert Kurz schreibt hierzu: Teil 1:

    "[...] Der Begriff des Totalitarismus läßt sich so gegen den Strich der westlichen Legitimationsideologie bürsten. Das fällt besonders bei einem Klassiker der "Totalitarismustheorie" auf, dem 1951 erschienenen Buch der US-Philosophin Hannah Arendt über "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft". Sie schreibt dort: "Nichts ist kennzeichnender für die totalitären Bewegungen im allgemeinen und für die Qualität des Ruhmes ihrer Führer im besonderen als die verblüffende Schnelligkeit, mit der sie vergessen, und die verblüffende Leichtigkeit, mit der sie ausgewechselt werden können...Diese Bestandlosigkeit hat sicher etwas zu tun...mit der Bewegungssüchtigkeit totalitärer Bewegungen, die sich überhaupt nur halten können, solange sie in Bewegung bleiben und alles um sich herum in Bewegung versetzen...gerade diese außerordentliche Umstellungsfähigkeit und Kontinuitätslosigkeit ist, wenn es überhaupt so etwas gibt wie einen totalitären Charakter oder eine totalitäre Mentalität, zweifellos ein hervorragendes Merkmal...".
    Hannah Arendt hat hier nur die staatlich-politische Seite des Totalitarismus im Auge, also die Diktaturen der Zwischenkriegszeit. Aber nur scheinbar steht die gesichtslose, von den Diktaturen oder demokratischen Übergangsformen politisch-militärisch mobilisierte Masse der ersten Jahrhunderthälfte im Gegensatz zum kommerziellen Kult des ebenso gesichtslosen Individuums als "Verbraucher" in den Nachkriegsdemokratien. Vielmehr kann das eine, die in den Aufmärschen mobilisierte Masse, als die Einübung des anderen, des isolierten Konsumenten-Individuums, verstanden werden. Das "freie" demokratische Nachkriegs-Individuum ist nichts anderes als das ursprünglich von der politisch-militärischen Maschine genormte und gepreßte "Exemplar", das nur losgelassen wurde, um für den weiteren kommerziellen Gang der kapitalistischen Weltmaschine verfügbar zu sein.
    In ihrer (1951 verständlichen) Fixiertheit auf die staatstotalitären Diktaturen übersieht Hannah Arendt völlig, wie sehr ihre Formulierungen über das Wesen des Totalitarismus exakt den Charakter des totalitär werdenden Marktes und damit der westlichen Demokratie selber treffen. Denn die "verblüffende Schnelligkeit des Vergessens" - worauf träfe diese Kennzeichnung besser zu als auf die kapitalistischen Konjunkturen, die keine menschliche Entwicklung mehr sind, sondern nur noch der Durchgang gleichgültiger Inhalte durch die Bewegung des Geldes? Die "Leichtigkeit der Auswechslung" - was wäre damit präziser benannt als die zum Gegenstand reduzierte Persönlichkeit universell auswechselbarer Menschen? Und was könnte "bewegungssüchtiger" sein als der Kapitalismus selbst, der sich als ökonomisches Schneeballsystem in der Tat "nur halten kann, solange er in Bewegung bleibt und alles um sich herum in Bewegung versetzt"? Wo wäre "außerordentliche Umstellungsfähigkeit" eine größere Tugend als in der demokratischen Weltmarktwirtschaft, wie wir es ja gerade heute wieder gepredigt bekommen von den Einpeitschern der permanenten "Anpassung" an einen blinden "Strukturwandel"? Und was schließlich könnte eine radikalere "Kontinuitätslosigkeit" repräsentieren als der geschichtslose universelle Markt, der in einer Art von zeitlosem Nirwana seine immergleiche Bewegung vollzieht?"

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  8. Teil 2:

    "Noch deutlicher wird diese Entsprechung, wenn Hannah Arendt das "Bewegungsgesetz" des Totalitarismus präziser zu erfassen sucht: "Hinter dem Anspruch auf Weltherrschaft, den alle totalitären Bewegungen stellen, liegt immer der Anspruch, ein Menschengeschlecht herzustellen, das aktiv handelnd Gesetze verkörpert, die es sonst nur passiv, voller Widerstände und niemals vollkommen erleiden würde...Die Friedhofsruhe, die nach klassischer Theorie die Tyrannis über das Land legt..., bleibt dem totalitär regierten Land so verwehrt wie Ruhe überhaupt. Zwar sind seine Bewohner allen in freier Spontaneität entspringenden Handelns...beraubt; dennoch werden sie in dauernder Bewegung gehalten als Exponenten des gigantisch übermenschlichen Prozesses von Natur oder Geschichte, der durch sie hindurchrast...Terror in diesem Sinne ist gleichsam das >Gesetz<, das nicht mehr übertreten werden kann...".
    Was hier als Essenz des Totalitarismus angeprangert wird, ist aber nichts anderes als die Essenz des Liberalismus selbst. Denn es war ja niemand anders als die Creme der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre und Aufklärungsphilosophie, die von Anfang an für sich in Anspruch genommen hatte, "die Gesetze von Natur und Geschichte" an den Menschen zu exekutieren. Und es ist der total gewordene Kapitalismus, der die Bewohner des sozialen Raumes, in dem er herrscht, "allen in freier Spontaneität entspringenden Handelns beraubt"; denn alle Tätigkeit ist in diesem Raum axiomatisch formatiert durch den ökonomischen Imperativ. Noch weitaus unbarmherziger als von den staatstotalitären Diktaturen werden die ökonomisierten Individuen vom freien Weltmarkt "in dauernder Bewegung gehalten als Exponenten des gigantisch übermenschlichen Prozesses" von Strukturbrüchen einer blinden Wachstumsdynamik, die "durch sie hindurchrast" und von den neoliberalen Ideologen als objektiver "Prozeß von Natur und Geschichte" ausgegeben wird.
    [...] Die Transformation des kapitalistischen Totalitarismus vom totalen Staat zum totalen Markt hat am Ende des 20. Jahrhunderts zu einem beispiellosen "Terror der Ökonomie" geführt - dem "Gesetz", von dem uns höhnisch gesagt wird, daß es "nicht mehr übertreten werden kann"."

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  9. @ Geschichtsstudent:

    Hannah Arendt schrieb m. E. aus dem Blickwinkel ihrer Zeit. Was sich in den letzten 50 Jahren alles verändert hat, war für sie damals und ist für uns heute nicht zufriedenstellend vergleichbar weil die Vergangnenheit für uns und das Heute für sie nicht mehr erlebbar ist. Over.

    Sie ging wohl vom Politischen aus, was naheliegend ist aufgrund ihrer eigenen Geschichte, jedoch sind die Merkmale des Totalitarismus (z. B. das in Bewegung bringen, ständig aktiv sein, ständig sich und v. a. andere antreiben - der Betrieb - und dabei auch das Tempo vorgeben) durchwegs klassische Merkmale, man denke nur an die dauernden Events in den Nachrichten, Sport, Kurltur etc. pp. Man denke dabei an die Art und Weise der früheren Sklaventreiber, wenn ich diesen unerhörten Vergleich bringen darf. Nur ist heute diese Methode strategisch verankert durch Orga, Zeitvorgaben, Meinungsmache, Anwendung von gruppendynamischen Methoden, Zielvorgaben. Das Wissen um die menschliche Eitelkeit und um die späte und langsame kognitive Entwicklung der Menschen tun ihr übriges.

    Würde Hannah Arendt heute leben, würde sie zweifellos ihre Erkenntnisse auf das Wirtschaftsystem übertragen haben.

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  10. @ anonym:

    Natürlich schreibt Hannah Arendt aus dem Blickwinkel ihrer Zeit. Die Kritik zielte weniger gegen ihre Schriften, als vielmehr gegen die bis heute übliche Verwendung des "Totalitarismus"-Begriffs. Der "Totalitarismus"-Begriff dient als politischer Kampfbegriff (wie auch der "Extremismus"-Begriff), mit dem Ziel, links und rechts (bzw. Kommunismus und Faschismus)gleichzusetzen und somit fortschrittliche, d.h. linke bzw. linksradikale Gesellschaftsentwürfe zu denunzieren. Dem "linken oder rechten Totalitarismus" wird dann die angeblich gute "Mitte", d.h. die liberale Marktwirtschaft gegenübergestellt, die angeblich nicht totalitäre Herrschaft des Marktes (des Kapitals) über die heutige Welt. Dieses angeblich beste aller möglichen Systeme, in dem wir heute leben, müsse gegen linke und rechte "Extremisten" verteidigt werden. Dabei wird eben völlig von der Tatsache abstrahiert, dass Faschismus eine menschenverachtende, kriegerische und verbrecherische Ideologie ist, während der Marxismus für Frieden, Gerechtigkeit und Humanismus kämpft - trotz aller z.T. schlimmen Fehler, die im Namen des Kommunismus begangen wurden. Es ist unwissenschaftlich, von dem Inhalt einer Ideologie zu abstrahieren. In der Bundesrepublik wird dies jedoch in den Medien oder in der Schule prinzipiell so gemacht: da ist dann etwa von den Millionen Toten "des Kommunismus" die Rede - als ob es nicht leicht wäre, viele Millionen Tote durch den Kapitalismus zu errechnen (vom Ersten Weltkrieg über den Vietnamkrieg bis hin zu den Millionen Hungertoten weltweit). Dagegen wendet sich also meine - oder auch Robert Kurz' - Kritik, nicht persönlich gegen Fr. Arendt.

    Jedoch trifft deine In-Schutz-Nahme von Fr. Arendt auch nicht ganz zu. Denn Karl Marx erkannte schon vor 150 Jahren das Wesen des Kapitalismus als Klassenherrschaft und somit als eines Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisses, das sich allerdings erfolgreich mit dem Versprechen von "Freiheit" zu schmücken versteht.

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  11. @Geschichtsstudent

    >>...dass Faschismus eine menschenverachtende, kriegerische und verbrecherische Ideologie ist, während der Marxismus für Frieden, Gerechtigkeit und Humanismus kämpft - trotz aller z.T. schlimmen Fehler, die im Namen des Kommunismus begangen wurden...<<
    Ich stelle alle "-ismen" in Frage. Die heutige Politik merkt selbst dass sie mit ihren Programmen in eine Programmatik verfällt, zu der Menschen nicht geschaffen sind. Schon gar nicht der Mensch, der sich mit dem Programm nicht beschäftgt. Nicht will und nicht braucht. Denn er hat ja bekanntlich die Willensfreiheit. Daran knabberen heute die Leitsysteme. Und auch die, die Wissen schafft.

    >>Es ist unwissenschaftlich, von dem Inhalt einer Ideologie zu abstrahieren.<<
    Da stimme ich weitgehend zu, soweit ich das erkennen kann.

    >>Denn Karl Marx erkannte schon vor 150 Jahren das Wesen des Kapitalismus als Klassenherrschaft und somit als eines Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisses, das sich allerdings erfolgreich mit dem Versprechen von "Freiheit" zu schmücken versteht.<<

    Ich erinnere daran, dass Marx selbst von "Menschenmaterial" sprach.
    Die Definition des Kapitalismus erfolgte natürlich wissenschaftlich und somit bewußt. Das haben Definitionen so an sich. Es wäre also ein leichtes für heutige Wissenschaftler, den Begriff neu zu definieren und vom Machtbegriff abzukoppeln. Mich wundert, dass das nicht schon längst geschehen ist. Fehler geschahen übrigens unter allen Regierungsformen.
    In Familien wird Kommunismus gelebt, ohne dass er erkannt oder thematiesiert wird. Rein aus der Verpflichtung der elterlichen Fürsorge heraus. Wir wissen aber, dass manche Familien dieser Fürsorgepflicht nicht nachkommen. Und dies hängt nicht von finanziellen Faktoren ab. In der Wirtschaft muss eine gewisse Verpflichtung zum Gewinn verankert sein, um den Lebensunterhalt der Beschäftigten und damit der Firma zu sichern. Die Geldfrage, um die seit Jahrhunderten gestritten wird, ist doch nur die, dass Gewinn bzw. Verlust auf die daran Beteiligten/Mitarbeiter/innen verteilt wird.

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  12. Geschichtsstudent17. Januar 2012 um 01:17

    @ anonym:

    "Die heutige Politik merkt selbst dass sie mit ihren Programmen in eine Programmatik verfällt, zu der Menschen nicht geschaffen sind."
    WO siehst du bitteschön, dass "die" Politik merkt, dass sie mit ihrer Politik falsch liegt??? Schau dir doch nur mal an, wie der Sozialabbau in Europa unter dem Deckmantel der "Euro-Rettung" forciert wird. Wie kommst du zu dem Schluss, dass "die" Politik (wer ist das denn überhaupt konkret?) irgendetwas merken würde?

    Du musst besser recherchieren: Da, wo Marx von "Menschenmaterial" spricht, tut er dies, um den ZYNISMUS DES KAPITALISMUS aufzuzeigen! Hier das Zitat, auf das du dich wohl beziehst, wo es um die künstliche Erzeugung der Arbeitslosigkeit im Kapitalismus geht:
    "Wenn aber eine überschüssige Arbeiterbevölkerung notwendiges Produkt der Akkumulation oder der Entwicklung des Reichtums auf kapitalistischer Grundlage ist, wird diese Überbevölkerung umgekehrt zum Hebel der kapitalistischen Akkumulation, ja zu einer Existenzbedingung der kapitalistischen Produktionsweise. Sie bildet eine frei verfügbare industrielle Reservearmee, die dem Kapital ganz so absolut gehört, also ob es sie auf seine eigenen Kosten großgezüchtet hätte. Sie schafft für seine wechselnden Verwertungsbedürfnisse das stets bereite ausbeutbare Menschenmaterial, unabhängig von den Schranken der wirklichen Bevölkerungszunahme. ..." (aus Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 661).
    Nicht Marx sieht also die Menschen als "Material", sondern er will ja gerade zeigen, dass die Menschen im Kapitalismus als "Material" gelten, weil sie ihre eigene Arbeitskraft verkaufen müssen und vom guten Willen der Unternehmer sowie von Konjunkturschwankungen abhängig sind!

    "In der Wirtschaft muss eine gewisse Verpflichtung zum Gewinn verankert sein, um den Lebensunterhalt der Beschäftigten und damit der Firma zu sichern."
    Wenn du schreibst, dass Profite notwendig sind, "um den Lebensunterhalt der Beschäftigten und damit der Firma zu sichern", unterstellst du ja bereits, dass 1. die Beschäftigten Lohnabhängige sind und 2. dass die Firma sich im Konkurrenzkampf bewähren muss. Gerade diese Sachverhalte lehne ich ja ab, da sie im Sozialismus / Kommunismus nicht nötig wären!

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  13. Einige Bemerkungen zur Dialektik der Aufklärung unter forschungsethischen Gesichtspunkten

    Fragen der Forschungsethik stellen sich nicht nur in den Naturwissenschaften, wo sie ja seit langem berücksichtigt werden, sondern auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Auch hier wird die ethische Dimension des Forschens zunehmend zum Gegenstand der Selbstreflexion – und hier artikuliert sich dabei ein wachsender Widerwille gegen das akademische Prinzip des angestrengten Immer-noch-mehr-wissen-Wollens um der immer noch besseren Kontrolle der Gegenstände willen, das offenbar das Forschungsprinzip abendländischer Wissenschaft überhaupt zu sein scheint.
    Ein wissenschaftlich gelöstes Problem ist erledigt im Sinne einer destruierenden Einpassung in das immer feinteiliger werdende Raster der Rationalität. Ein Erfahrungsbereich nach dem anderen wird seiner Unmittelbarkeit entrissen und „aufgeklärt“. Übrig bleiben werden vielleicht einige wenige „theorieresistente Lebensreste“, doch davon abgesehen steht zu befürchten, dass die Welt nicht mehr bewohnbar sein wird, wenn wir sie vollends verstanden haben.
    Peter Sloterdijk spricht in diesem Zusammenhang von einem „Ekel vor einer bestimmten Form der Selbsterhaltung“, von einem „sensiblen Zusammenzucken vor dem kalten Hauch einer Realität, in der alles Denken Strategie geworden ist, in der Wissen Macht ist und Macht Wissen.“ Und Paul Feyerabend meint lakonisch: „ ... wenn man die Sache irgendwie analysiert, dann löst sich das alles langsam auf.“
    Dieses sich so artikulierende Unbehagen ist nicht neu, es lässt sich in einen theoriegeschichtlichen Zusammenhang stellen, der vielleicht in der Romantik beginnt, über Nietzsche zur Kritischen Theorie führt und gegenwärtig in die neuere französische Philosophie mündet. In all diesen Denkansätzen wird eine mehr oder weniger harsche Kritik am deduktiven Denken geübt und nach erkenntnis¬theoretischen Alternativen gesucht, die einen weit behutsameren Umgang mit den Forschungsgegenständen ermöglichen und erfordern würden. Nietzsche stellt die strapaziöse Frage: „(...) wie haben wir es von Anfang an verstanden, uns unsere Unwissenheit zu erhalten, um eine kaum begreifliche Freiheit, Unbedenklichkeit, Unvorsichtigkeit, Herzhaftigkeit, Heiterkeit des Lebens, um das Leben zu genießen! Und erst auf diesem nunmehr festen und granitenen Grunde von Unwissenheit durfte sich bisher die Wissenschaft erheben, der Wille zum Wissen auf dem Grunde eines viel gewaltigeren Willens, des Willens zum Nicht-wissen, zum Ungewissen, zum Unwahren! Nicht als sein Gegensatz, sondern als seine Verfeinerung! (...) hier und da begreifen wir es und lachen darüber, wie gerade noch die beste Wissenschaft uns am besten in dieser vereinfachten, durch und durch künstlichen, zurechtgedichteten, zurechtgefälschten Welt festhalten will, wie sie unfreiwillig-willig den Irrtum liebt, weil sie, die Lebendige, das Leben liebt!“
    Darin steckt nun bereits jene hochkomplizierte und vielschichtige Rationalitätskritik, die schließlich zur Infragestellung der Moderne geführt hat. Nietzsche gilt als der Stammvater der postmodernen Klage, dass der Begriff die Bedeutung vergewaltige. Wissenschaftsgeschichte erscheint in diesem Licht nicht als Emanzipationsgeschichte, sondern als ein Prozess schleichender Zerstörung, und Aufklärung nicht mehr als Fortschritt, sondern als bedrohlich fortschreitende Unterwerfung der sinnlichen Erfahrungswelt unter die Herrschaft des „Geistes“. Bereits bei Hegel steht am Ende dieses Vorgangs die „Schädelstätte“ als geschichtsphilosophische Metapher des absoluten Wissens. Erst an diesem Ende hat der absolute Geist in einem Selbstverschlingungsprozess alles Wissbare in sich hineingefressen.
    [weiterlesen unter: Schwarzer Orpheus - weißer Ödipus]
    http://www.lektorat-schreibkunst.de/cms/index.php?option=com_content&view=article&id=9&Itemid=6

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  14. Geschichtsstudent21. Januar 2012 um 02:14

    @ G.H. - Teil 1:

    Zunächst muss ich sagen, dass es mir schwer fällt, in diesem sammelsurium von äußerungen verschiedener philosophen tatsächlich einen forschungsETHISCHEN roten faden zu erkennen. Vor allem sehe ich keinen Alternativvorschlag, außer, dass die Wissenschaft einfach aufhören sollte, durch Forschung neue Sachverhalte zu erschließen bzw. unklare Dinge zu erkennen. Damit würde sich aber Wissenschaft ad absurdum führen, weshalb ich dies für in keiner Weise hilfreich halte.

    Aber Schritt für Schritt. Dass dem aufklärerischen Denken eine Gefahr zur „rationellen“ Organisation höchst unvernünftiger Dinge innewohnt, gestehe ich zu. Ich empfehle in diesem Zusammenhang die Lektüre Max Horkheimers „Kritik der instrumentellen Vernunft“.

    Wenn Sie schreiben: „…davon abgesehen steht zu befürchten, dass die Welt nicht mehr bewohnbar sein wird, wenn wir sie vollends verstanden haben.“ Was meinen Sie damit konkret? Wenn Sie auf das Zerstörungspotenzial etwa der Atomtechnologie anspielen möchte ich zurückfragen: glauben Sie wirklich, dass Technik AN SICH die Gefahr darstellen würde oder ist es nicht vielmehr so, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse (Ökonomie und Politik) diese Gefahren hervorbringen? Sowie die Atomenergie nur den Profiten der Atomkonzerne nützt, so entstehen auch Kriege (evtl. gar mit Atomwaffen) nicht aus heiterem Himmel, sondern weil es konkurrierende ökonomische Interessen – die sich auch in geostrategischen Konflikten manifestieren – gibt. Solche konkurrierenden Interessen, die gar gewaltsam ausgetragen werden – wie auch der Einsatz zerstörerischer Technologien im Interesse bestimmter Wirtschaftsakteure – sind nicht naturgesetzlich, sondern setzen bestimmte, durchaus veränderbare gesellschaftliche Verhältnisse voraus.

    Sloterdijk ist für mich als Philosoph nicht ernst zu nehmen, spätestens seit er ernsthaft vorschlug, Steuern abzuschaffen und die Reichen und Vermögenden einfach das an den Staat abführen zu lassen, wozu selbst bereit sind. Sloterdijk ist ein elitärer neoliberaler Apologet.

    Zu Paul Feyerabends absurder Wissenschafts- und Theoriefeindlichkeit, die in postmoderne Beliebigkeit ausartet, gäbe es viel zu sagen, doch auch dies werde ich an dieser Stelle unterlassen. Nur soviel sei gesagt: Nähme man ihn ernst, könnte man jeden Versuch, die Welt sich wissenschaftlich zu erschließen, beerdigen. Und nebenbei: Feyerabend wollte, dass sich Wissenschaft vollständig privat finanzieren soll und der Staat sich „heraus hält“. Würde dies Realität, würde „Wissenschaft“ in jeder Beziehung Instrument zu Interessen-Durchsetzung der Privatwirtschaft, mithin Herrschaft- und Apologiemittel des Kapitals. DAS wäre dann wirklich ein orwellscher Albtraum!

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  15. Geschichtsstudent21. Januar 2012 um 02:15

    @ G.H. - Teil 2:

    Ihre Sympathie für das Irrationale (Romantik, Nietzsche, …) tritt allerdings deutlich zutage. Sie zitieren Nietzsche: „(...) wie haben wir es von Anfang an verstanden, uns unsere Unwissenheit zu erhalten, um eine kaum begreifliche Freiheit, Unbedenklichkeit, Unvorsichtigkeit, Herzhaftigkeit, Heiterkeit des Lebens, um das Leben zu genießen! Und erst auf diesem nunmehr festen und granitenen Grunde von Unwissenheit durfte sich bisher die Wissenschaft erheben, der Wille zum Wissen auf dem Grunde eines viel gewaltigeren Willens, des Willens zum Nicht-wissen, zum Ungewissen, zum Unwahren!“
    Erstens, schließen sich Heiterkeit und Lebenslust einerseits und wissenschaftlich-rationale Herangehensweise an die Realität keineswegs aus! Zweitens ist, nimmt man die Aufforderung, die Unwissenheit zu erhalten, das Nicht-Wissen zu bewahren, ernst, nicht nur jeglicher esoterischer Spinnerei, sondern, im schlimmsten Fall, faschistischem Wahn Tür und Tor geöffnet!

    Sie schreiben: „Wissenschaftsgeschichte erscheint in diesem Licht nicht als Emanzipationsgeschichte, sondern als ein Prozess schleichender Zerstörung, und Aufklärung nicht mehr als Fortschritt, sondern als bedrohlich fortschreitende Unterwerfung der sinnlichen Erfahrungswelt unter die Herrschaft des „Geistes“.“
    Denken Sie nicht, dass die Ergebnisse des „Geistes“, hier also der Wissenschaft, dem menschlichen Leben – sowohl individuell wie auch gesellschaftlich – in sinnvoller Weise dienlich gemacht werden können? Würden Sie sich nicht bei einer komplizierten Krankheit durch die Ergebnisse der medizinischen Forschung helfen lassen? Ist es denn so schwer einzusehen, dass die entscheidende Frage diejenige nach den Bedingungen der menschlichen Vergesellschaftung ist? Wie eine Gesellschaft – insbesondere die Wirtschaft – funktioniert und wie die Prozesse gesellschaftlicher Willensbildung und Entscheidungsfindung organisiert sind, salopp gesagt: „wie wir zusammen leben“ ist die entscheidende Frage. In einer solidarischen Gesellschaft, die nachhaltig wirtschaftet und die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen überwindet, können uns die Ergebnisse geistiger Anstrengung (d.h. der wissenschaftlichen Forschung) doch ohne Zweifel nützlich sein!

    Wenn Sie allerdings den ominösen Weltgeist bei Hegel, den Sie in ihrem letzten Satz anführen, für eine Realität halten, also Ihr offensichtlich vollkommen unmaterialistisches (materialistisch im philosophischen Sinne!) offenbaren, scheint eine Diskussionsgrundlage wohl ohnehin nicht vorhanden zu sein…

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  16. Geschichtsstudent21. Januar 2012 um 02:23

    @ G.H.

    Korrektur: im letzten Satz meines Beitrags muss es heißen: "Ihr vollkommen unmaterialistisches Weltbild offenbaren"

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  17. @Geschichtsstudent
    Ich habe meine Antwort direkt unter dem Link deiner vom 16.01. gepostet. Sie erscheint leider nicht hier im Blog. War aber so gedacht.

    @G.H.
    >Ein wissenschaftlich gelöstes Problem ist erledigt im Sinne einer destruierenden Einpassung in das immer feinteiliger werdende Raster der Rationalität.<
    Findet meine Zustimmung. Siehe auch mein Post oben zu Hanna Arendt vom 29.12. !

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